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Acht Freunde sollt ihr sein. Acht Mitglieder besitzt die Genossenschaft Ein Ding der Möglichkeit – die Berlinerin Julia Nagel ist eine von ihnen. Auf dem gemeinsamen Anwesen in Salderatzen im Wendland eröffnet im Mai 2022 ein Ort für Co-Living und Co-Working auf dem Land. 

„Wir verstehen unseren Hof als Experimentierfeld“, Julia Nagel läuft in schnellen Schritten über das holperige Kopfsteinpflaster. „Wir möchten Freiberufler und Kreative anziehen, ihnen Künstlerresidenzen, Co-Working und Workation anbieten, wir wollen unsere Räume und Gästezimmer an Firmen vermieten, aber auch selbst Seminare anbieten.“ Für ein paar Tage raus aus der Stadt, rein ins Homeoffice auf dem Land. Spätestens seit Corona und dem fortschreitenden Breitbandausbau ist das für viele möglich. Bis Sommer 2020 lebte auch Julia in der Stadt: In Berlin arbeitete die Kommunikationsdesignerin und Human-Resources-Managerin für eine Agentur. Bis sie – mit sieben Freunden – ins Wendland zog und ein „Ein Ding der Möglichkeit“ gründete.

Dieses „Ding“ ist ein ganz schön großes: ein weitläufiges Anwesen, dessen Gebäude sich um einen baumbestandenen Innenhof verteilen. Vereinzelt gruppieren sich Couches und Sessel unter lang gezogenen Traufdächern, eine helle Zeltplane spannt sich über einer Sitzgruppe auf, erste Gästehaben Platz genommen und von der Tischtennisplatte schallt ein beherztes „Oh, neiiin!“ herüber. Noch befindet sich das denkmalgeschützte Anwesen in einer Umbruch- und Umbauphase, aber im Mai 2022 soll es hier richtig losgehen. 

Julia ist weitergelaufen und blickt durch ein torgroßes Fenster in die Kulturscheue. Sie beherbergt bereits einen Saal für Konzerte und Veranstaltungen, zukünftig sollen hier auch Küche und Speisezimmer untergebracht werden. Im alten Kuhstall, er allein besitzt 750 qm, entstehen die neuen Werkstätten und Ateliers, Workshop- und Yogaräume und natürlich das Co-Working-Space. Die Gästezimmer befinden sich gegenüber im Haupthaus mit Wintergarten. Auch in den drei Tiny-Houses, hinten auf der Wiese, können sich Besucher einquartieren. Bleiben noch die ehemaligen Hühner- und Schweineställe: In ihnen befinden sich die Wohnungen der Genossenschaftsmitglieder Julia, Kim, Niels, Eva, Annika und Peter, Svea und Martin.

In ihrem früheren Leben waren sie Agenturinhaber, Designer, Wirtschaftswissenschaftler, Bootsbaumeister, Koch und Bar-Besitzer. Bis zu dem Tag, an dem sie ihre Jobs aufgaben, ihre Wohnungen in Berlin und Hamburg verließen und nach Salderatzen zogen, einem winzigen Dörflein im Wendland. Wie es dazu kam, ist eine Geschichte, sie sich hübsch erzählen lässt, beginnt sie doch mit einer Hochzeit – in Salderatzen: „Annika und Peter haben 2017 hier in der Scheune geheiratet. Und wir waren alle eingeladen.“ Wobei sich die Gruppe damals noch nicht kannte, geschweige denn ahnte, was aus ihr einmal werden sollte. Aber vielleicht ist dem Hochzeitspaar schon damals etwas gedämmert, jedenfalls meinte es zu Heinz, der auf dem Gut seinerzeit ein Hotel mit Eventlocation betrieb: „Wenn du mal verkaufst, dann melde dich bei uns.“ Das machte Heinz. Drei Jahre später.

Der Artikel über Julia Nagel stammt aus dem Reportage-Bildband Gekommen, um zu bleiben, Callwey Verlag, 2022. Text: Kerstin Rubel, Fotos: Ulrike Schacht

„Wir sind dann alle in unsere Camper gestiegen und haben zwei, drei Wochenenden im Wendland verbracht, einfach, um uns umzusehen, die Gegend kennenzulernen“, erinnert sich Julia, die zum damaligen Zeitpunkt bereits drei Jahre nach einer passenden Immobilie gesucht hatte, gemeinsam mit Kim und Niels. Dass es statt des anvisierten Brandenburgs nun das Wendland werden sollte, irritierte die Berlinerin zunächst, „aber letztlich war es hier perfekt“. Und so kauften die acht das Anwesen im Januar 2021, vielmehr die Genossenschaft, die sie bis dahin gegründet hatten, kaufte. Was sich mal so eben in einem Satz zusammenraffen lässt, war alles andere als ein leichtes Unterfangen. „Viel Diskussion und Herzschmerz gingen der Gründung voraus. Wir acht sind gleichberechtigt, wir tragen gleichermaßen Verantwortung und haben keinen Chef“, Julia hält inne und schüttelt den Kopf. „Die alten Prinzipien von Hierarchie und Eigentum, wie sie klassische Unternehmen verkörpern, sind doch total abgegessen. Wir haben früher alle in Top-down-Strukturen gearbeitet und wissen genau, das wir die hier nicht mehr wollen.“ Heute sind die acht mit einer halben Stelle bei der Genossenschaft beschäftigt, an der sie Anteile halten. Sie beziehen von ihr ein Grundgehalt und profitieren von einer vergünstigten Wohnungsmiete. Alle Genossenschaftsmitglieder leben auf dem Hof, bringen sich mit Herzblut ein. „Dabei machen wir viele Dinge zum ersten Mal, eine latente Überforderung ist ständig spürbar“, Julia stöhnt. „Aber andererseits wünschten wir uns gerade diese Herausforderung, den Sprung ins kalte Wasser.“

Auf Außenstehende mag diese Denk- und Lebensweise, zudem das Prinzip der Genossenschaft irritierend wirken – etwa auf Banken. „Zehn haben wir abgeklappert, bevor wir einen Kredit bekamen“, berichtet Julia, die den ganzen Gründungsprozess als „langwierig und intensiv“ erlebte. War sie doch die Erste, die im Sommer 2020 nach Salderatzen zog, Monate bevor Kredit, Kaufvertrag und Fördergelder, die von der EU und dem Land Niedersachsen kommen sollten, dingfest waren. Der Schulbeginn von James, ihrem damals zwölf-jährigen Sohn, drängte. Auch in dieser Hinsicht fällte Julia keine leichte Entscheidung, ihren Landgang musste auch James’ Vater, der nach wie vor in Berlin wohnt, mittragen. Das Elternpaar lebt zwar seit Jahren getrennt, teilte sich bislang aber die Erziehungsarbeit. „Intensive Gespräche und einige Flaschen Rotwein mussten dafür herhalten“, so Julia lächelnd, aber die Zerrissenheit der Vergangenheit spiegelt sich noch in ihren Augen. „Ich wusste“, sie stöhnt noch einmal, leise, „ab dem Umzug bin ich alleinerziehend.“ Hat sie kalte Füße bekommen? „Und ob, aber nicht nur dabei!“, sie lacht laut auf. „Aber irgendwann musst du dich einfach entscheiden: Gas oder Bremse? Für mich war klar, wenn ich das hier nicht mache, dann ärgere ich mich ein Leben lang.“


Erfahrungswerte

Viele Menschen spüren, dass tradierte Wohnmodelle und überkommene Lebenskonzepte nicht mehr tragen – anonyme Single-Apartments aber auch nicht. Bleibt die Frage: Wie lässt es sich heute gut leben? Für Julia Nagel ist das klar: in einer Gemeinschaft, auf dem Land mit reichlich Gestaltungsspielraum. Sie lebt zusammen mit sieben Erwachsenen und fünf Kindern. Was schätzt die Alleinerziehende am Co-Living?

Freundschaftliche Wahlfamilie: „Mit meinen Freunden habe ich mich schon immer verbunden gefühlt, sie sind meine Wahlfamilie. Hier in der Hofgemeinschaft gibt es Menschen, die kenne ich seit 10 Jahren, manche aber auch erst seit zwei. Natürlich hängt auch bei uns manchmal der Haussegen schief, oder die Dinge entwickeln sich einfach anders als geplant. Auch deshalb ist es wichtig, dass wir Freunde sind und keine Fremden, die sich nur für ein Wohnprojekt zusammengetan haben. So ist es leichter, wieder zueinanderzufinden, denke ich. Co-Living braucht Toleranz, Achtsamkeit, Verständnis, wie jede andere Beziehung auch.“

Gemeinsam alleinerziehend: „Für mich hat das Prinzip Kleinfamilie nicht funktioniert, der Vater meines Sohnes und ich haben uns schon früh getrennt. Trotzdem wünschte ich mir immer, in einer Gemeinschaft zu wohnen. Heute ist es auch für meinen Sohn toll, an dem Leben der anderen teilzunehmen, bei Annika und Peter zu Abend zu essen oder mit Kim im Atelier zu malen, denn das ist definitiv nicht meine Stärke.“

Hofgemeinschaft mit eigenem Raum:„Wichtig ist, dass wir in einer Gemeinschaft leben, jeder aber auch seinen eigenen Raum bekommt. Wir teilen uns beispielsweise die Waschküche und ein Auto, doch jeder von uns besitzt seine eigene Wohnung, die wir jeweils bei der Genossenschaft mieten. Sie sind zwischen 40 und 120 qm groß, je nach Bedarf. Ich wohne hier mit meinem Sohn, die anderen leben allein, als Paar oder Familie. Schon daraus ergeben sich ganz unterschiedliche Bedürfnisse. Für mich als Alleinerziehende ist ein planbarer Tagesrhythmus wichtig – und eine eigene Küche. Wir sind alle aus dem WG-Alter raus.“


Bildnachweis: Callwey Verlag (Ulrike Schacht)