Zum Hineinschnuppern: Die Liebe braucht ein ganzes Dorf

Wer einen Kindle hat oder die Kindle-App besitzt, findet meinen Roman „Die Liebe braucht ein ganzes Dorf“ in der Leseproben-Sammlung „Träum dich weg“, die der Droemer Knaur Verlag zusammengestellt hat. Wer nur einmal in die ersten Seiten hineinschnuppern möchte, der kann direkt hier loslegen:
Abendluft
Der Land Rover strotzt nur so vor Dreck. Ich erkenne ihn von Weitem. Eine kleine Menschentraube hängt an dem Auto, versunken in ein leises Expertengespräch. Hipster. Je mehr Schmutz am Rover klebt, desto mehr lieben sie den Wagen. Mit großen Schritten, so wie sie meine hohen Pumps eben noch zulassen, pflüge ich durch die von Altbauten gesäumte Allee. Mir reicht es. Zwei Tage Meetings ohne Ende, dann noch der Zürich-Flug mit seiner Verspätung. Ich will nur noch eins: nach Hause. Und raus aus der Stadt, raus aus Hamburg. Noch während des Gehens krame ich in meiner bauchigen Handtasche nach dem Autoschlüssel, als ich ihn finde, stehe ich auch schon vor meinem Wagen.
„Sorry, darf ich mal?“
Zwei junge Männer, vollbärtig, treten überrascht zur Seite. Und: Sie taxieren mich: Ob der wohl der coole Wagen gehört? Ich kann die Denkblase förmlich über ihren Köpfen schweben sehen.
Während ich mich, entschuldigend lächelnd, an ihnen vorbeidrücke, bleiben meine Augen an einem Bizeps hängen. Er wölbt sich unter einem knapp geschnittenen Hemd und gehört zu einem der beiden Jungs.
Hübsch, denke ich, entriegele derweil das Türschloss. Der Bizeps folgt jeder meiner Bewegungen.
„Ach, Entschuldigung, ist der Land Rover ein Ninety“, fragt er mich.
„Exakt. Ein Ninety, ein Original von 1984.“
„Krass. Dass der immer noch läuft.“
„Klar, für einen Klassiker ist der Wagen fast neu.“
„Voll krass. Und, ähm, wie ist der so outdoor?“
„Wie? Outdoor?“ Irritiert blicke ich den Bizeps an.
„Na, ich meine, so offroad an krass steilen Hängen, voll mit Allrad halt. Oder im fetten Schlamm. Oder, mega, im Winter! Der geht doch wie nix durch Schnee – oder?“
Jetzt fällt mein Blick runter. Runter auf den Asphalt. Dort bleibt er kleben wie ein Kaugummi. Denn ich bin einfach zu müde, zu müde für einen Kommentar.
Stattdessen quetsche ich mich mit einem „Darf ich mal?“ weiter in Richtung Kofferraum. Ich öffne ihn und hieve meinen Alukoffer hinein, dann schlage ich ihn zu. Rums. Erneut entschuldigend lächelnd, schiebe ich mich zurück in Richtung Fahrertür, ziehe sie auf und lasse mich rücklings auf den Sitz fallen. Die einzige Methode übrigens, um mit einem engen Bleistiftrock unbefleckt in ein äußerst schmutziges Auto zu gelangen. Möglichst elegant ziehe ich beide Beine nach und werfe meine Handtasche auf den Beifahrersitz. Geschafft. Ich schließe die Fahrertür, nicke in die Runde, dann starte ich den Motor. Kraftvoll wummerte der Rover los. Nein, leise ist er nicht, der Kleine, aber das verlangt da, wo ich herkomme, ja auch keiner.
Als ich den Blinker setze, nehme ich den Bizeps noch einmal ins Visier: dunkelbrauner Vollbart, bis an die Haarwurzeln gepflegt. Gut gebaut. Chinos, geschmackvolle Kleidung, mit der gekonnt britischen Note. Hübsch, ja, wirklich.
Und er wirft mir einen langen Blick durch die Fahrerscheibe zu. Einen sehr langen.
„Lass ihn da nicht stehen!“, würde mir jetzt meine Freundin Flora zurufen. Ich sehe sie förmlich vor mir stehen, wie sie ihre Hände an den Mund legt und zu einem Trichter formt. „So ein süßer Typ, der hängt doch schon am Haken!“
Ob ich will oder nicht: Ich muss schmunzeln. Die gute Flora, nichts wünscht sie sich mehr, als mir einen passablen Mann zu verpassen. Nur ich spiele – leider – nicht mit.
Dann lege ich den ersten Gang ein und gebe Gas. Im Rückspiegel sehe ich den Bizeps, wie er mitten auf der Straße steht und mir nachschaut.

Gut zwei Stunden später, als ich die Kehre unten bei den alten Buchen nehme, sacken meine Schultern hinab. Wie auf Knopfdruck fällt die Anspannung von mir. In meinem Brustraum spüre ich ein tiefes Aufatmen. Das wäre geschafft, ich bin gleich daheim. Es ist schon fast dunkel geworden, die Scheinwerfer tasten sich am Waldrand entlang. Vor der Schranke stoppe ich den Rover, hüpfe in meinen Sneakers, die ich unterwegs gegen meine Pumps getauscht habe, aus dem Wagen und schließe das große Vorhängeschloss auf. Was nun kommt, ist rein privat: Eine schmale Straße, zu der nur drei Menschen auf dieser Welt einen Schlüssel besitzen. Wie so oft muss ich jetzt grinsen. An meinem neuen Leben gefällt mir verdammt viel, ganz besonders aber diese Straße. Meine Privatstraße – und die zweier anderer, zugegeben.
Mein Land Rover und ich machen uns an die letzten Meter. Als sich der Wald öffnet und unsere Lichtung freigibt, schaue ich, wie immer, nach links. Kein Licht zu sehen, meine Teilzeitnachbarn sind nicht da. Wunderbar. Ich tuckere langsam an ihrem Haus vorbei, lasse meinen Blick über die fest verschlossenen Türen und Fensterflügel gleiten, die sich unter dem tiefen Reetdach ducken. Dann steuere ich auf mein Heim zu. Es steht am Ende der Lichtung, die Scheinwerfer meines Wagens lassen bereits seine Scheiben aufblitzen. Exakt in dem Moment, in dem ich vorfahre und den Motor stoppe, erklingt ein erwartungsvolles Fiepen hinter der Haustür. Ich greife eilig nach meiner Handtasche, wühle meinen Schlüsselbund hervor, springe heraus und öffne das Schloss.
Sofort spüre ich eine feuchte Nase in meiner Hand und ein warmes Fell, das mich umtanzt.
„Lux, mein lieber Lux. Da bin ich ja wieder, ich bin wieder da!“
Der Bewegungsmelder ist kaputt, so begrüße ich meinen Hund im Dunklen. Laut schlägt seine Rute gegen die Tür, er trommelt wie ein wild gewordener Schlagzeuger. Sein ganzer Körper ist in ein einziges Wedeln übergegangen. Ich lasse meine Hände an ihm entlanggleiten, drücke kurz seinen schmalen Kopf an meinen Oberschenkel.
„Lieber Lux, mein lieber Lux.“
Ich kann mich gar nicht sattfühlen an meinem Hund, an dem wohligen Tanz, den er vollführt. Dabei umspielt mich so eine verlockend milde Abendluft, dass ich spontan beschließe, noch eine kleine Runde mit ihm zu drehen. Hier auf unserer Lichtung, hier versteckt im Wald.
Fixsterne
Als ich meine Augenmaske nach oben schiebe, blendet mich helles Sonnenlicht.
„Oh, Mann, was hab ich tief geschlafen“, murmele ich, wälze mich aus dem Bett und öffne die Tür in Richtung Bad. Sofort ertönt eine Etage tiefer ein rhythmisches Klopfen. Lux. Er wedelt. Und er freut sich auf den Tag. Wie schön das ist.
Schnell erledige ich das Notwendigste: Zahnbürste, Wasser ins Gesicht, fertig. Der Puderpinsel und die Make-up-Fläschchen können mich mal. Rasch binde ich meine Haare zu einem Pferdeschwanz hoch, springe in meine Lieblingsjeans, ziehe ein frisches weißes Shirt über meinen Kopf, und schon flitze ich barfuß die Wendeltreppe herunter. Unten sitzt mein Lux, der voller Erwartung mit den Vorderbeinen hoch- und runterhüpft.
„Ja, du Lieber, jetzt geht‘s raus, recht hast du.“
Ich öffne die Terrassentür, und schon schießt er in die Freiheit. Als ich vor einem Jahr mit Lux hierherzog, begann auch für ihn ein neues Leben. Aufgewachsen als Großstadthund, der zu jedem Gassi-Gang brav an die Leine musste, genießt er nun das Landleben. Hier ist es selbstverständlich, dass Hunde einfach ihrer Wege gehen und frei herumlaufen dürfen. Ich blicke Lux durch das Küchenfenster hinterher und schmunzele darüber, wie pflichtbewusst und mit welch konzentrierter Miene er sein Revier markiert. Während ich die Kaffeemaschine in ihre Aufwärmphase schicke, checke ich kurz mein Handy. Flora hat geschrieben:
„Sag mal, kommst du gleich? Wir müssen unbedingt über mein Sommerfest sprechen. Es gibt eine Überraschung!!“
Oha, Flora! Ich liebe meine beste Freundin, aber für ihre Überraschungen bin ich noch nicht bereit. Erst brauche ich einen Kaffee. Während ich auf den Milchkaffee-Knopf an meinem Vollautomaten drücke, höre ich Lux. Er springt aufgeregt in dem feinen Kies herum, der meine Auffahrt bedeckt. Das Geräusch, das dabei entsteht, würde ich unter tausenden erkennen. Dann ertönt das typische Knirschen, das Reifen erzeugen.
„Ah, wir bekommen Besuch. Das kann ja nur einer sein“, murmele ich vor mich hin und ziehe meine gut gefüllte Tasse aus dem Kaffeeautomaten. Kurz darauf taucht der erwartete Kopf in der offenen Terrassentür auf. „Moin, Annika.“
Heinrich trägt, wie immer, seine dunkelgrüne Latzhose, die etwas zu weit an seinem hageren Körper hängt. Seine fröhlichen Augen sind hellwach.
„Woll’n wir denn mal?“, schiebt er hinterher.
Auch das ist mir noch zu hoch. Was könnten wir denn mal wollen? Heinrich erkennt meine Ratlosigkeit sofort, zieht den rechten Mundwinkel nach innen, wackelt leicht mit dem Kopf und meint:
„Na, die Fichte!“
„Ach, ja, die Fichte, die hatte ich ganz vergessen.“
„Das sehe ich. Was hast du nur wieder getrieben? Mädchen, Mädchen.“
Ja, auch das gehört zu meinem neuen Leben: Hier bin ich das Mädchen. Komme, was da wolle. Und sei es auch ein vierzigster Geburtstag. Ich bin und bleibe: das Mädchen. Wunderbar.
Heinrich gehört übrigens zu den drei Menschen auf dieser Welt, die einen Schlüssel zur Schranke besitzen. Denn Heinrich ist hier so etwas wie der gute Geist, der Mann, der alles kann, der alles weiß, und wenn nicht, jemanden kennt, der weiterhilft. Heinrich ist Gold wert.
Für heute haben wir beide uns die Fichte vorgenommen, die letzte Woche hinter meinem Haus „rumgekommen“ ist, wie man hier in der Gegend sagt. Der Baum sah schon länger krank aus, und eines stürmischen Tages kam er eben rum. Heinrich hat danach ganz schön mit mir gemeckert, so viele Worte hatte ich ihm gar nicht zugetraut: Was doch alles hätte passieren können, wäre die Fichte nur ein paar Meter weiter in Richtung Dach gefallen, da muss man sich doch mal früher drum kümmern – und so weiter und so fort.
Als er damit fertig war, bot er an, mir beim „Wegmachen“ zu helfen. Und genau das fällt mir nun wieder ein. Wir waren für neun Uhr verabredet, für jemanden wie Heinrich ist das mitten am Tag. Für jemanden wie mich, eine Großstädterin, allerdings verdammt früh. Ich schaue auf meine Mikrowelle und sehe auf ihrer Digitalanzeige: 9.02 Uhr. Heinrich ist pünktlich wie ein Schweizer Uhrwerk.
„Ich bin gleich soweit. Nur schnell einen Kaffee. Magst du nicht auch einen?“
„Ne, lass mal“, meint er knapp und schüttelt spärlich sein weißhaariges Haupt. Das hätte ich mir ja denken können. Für Heinrich gibt es nur zweimal am Tag Kaffee: um sieben in der Früh und dann noch mal um vier am Nachmittag. Dann ist Kaffeezeit, aber nicht jetzt, so mitten am Tag.
„Ich fahr schon mal ran, muss zu Mittag wieder zu Hause sein“, meint er – und recht hat er. Denn um zwölf Uhr wartet seine Annegret mit dem Essen. Und das ist heilig. Ihm und seiner Annegret auch.
Ich nicke kurz und schaue ihm nach, wie er mit immer noch elastischen Schritten zum Schlepper läuft. Hier auf dem Land sagen nur die Städter Trecker oder – noch schlimmer – Traktor. Die Einheimischen sagen: Schlepper. So wie Architekten immer nur von Leuchten sprechen. Oder von Vorhängen. Wer Lampe oder gar Gardine sagt, der hat sich verraten.
Nur bei Heinrich ist das nicht so, ihm ist all das wurscht, und seiner Annegret auch. Sie schert der Traktor ebenso wenig wie die Leuchte. Die beiden gehören als helle, warme Fixsterne zu meinem neuen Leben auf dem Land. Als ich vor einem Jahr hier auftauchte, haben sie mich quasi adoptiert. „Das Mädchen kann ja nicht so allein da oben im Wald wohnen!“ So etwas in der Art werden sie sich wohl gesagt haben.
Seither passen sie auf mich auf, schauen hier und da nach dem Rechten, auch wenn sie das natürlich niemals zugeben würden. Und ich? Ich wehre mich nicht, ich genieße! Auch wenn „das Mädchen“ jetzt erstmal tüchtig ranmuss. Rasch spüle ich den letzten Kaffeeschluck herunter, schlüpfe in meine derben Gartenschuhe und eile, flankiert von Lux, zu Heinrich hinters Haus.
Bildnachweis: Verlagsgruppe Droemer Knaur, Unsplash (Olga Tutunaru)